Interview mit Silvia Röck
Interview
Ausgabe #02/2024
"Unsere Arbeit ist viel komplexer geworden"
Seit 35 Jahren betreibt die AWO Düsseldorf an einem anonymen Standort das Internationale Frauenhaus, eins von zwei Frauenhäusern in der Stadt. Ein drittes ist geplant und wird gebraucht, denn bisher gibt es deutlich mehr Nachfrage als Plätze. Häusliche Gewalt hat laut Kriminalstatistik zugenommen. Das Lagebild des Bundeskriminalamtes gibt für 2023 mit 256.276 Opfern häuslicher Gewalt einen Anstieg von 6,5 Prozent zum Vorjahr an. 70,5 Prozent der Opfer sind weiblich. Wie Silvia Röck, Leiterin des AWO Frauenhauses, uns im Interview erzählt, schaffen es aber deutlich mehr Frauen als früher raus aus einem Leben mit Gewalt – weil die Hilfesysteme besser geworden sind. Anlässlich des Jubiläums haben wir mit ihr über die Entwicklungen und Herausforderungen in der Arbeit mit Betroffenen von häuslicher Gewalt gesprochen. Ihre Botschaft: Es braucht eine gute Vernetzung, eine sichere Finanzierung und mehr gesellschaftliches Bewusstsein.
Frau Röck, können Sie zu Beginn kurz beschreiben, was genau die Aufgabe eines Frauenhauses ist?
S. Röck: Frauenhäuser sind spezialisierte Einrichtungen für Frauen mit und ohne Kinder, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind. Wir sind speziell auf diese Gruppe ausgerichtet. Allgemeines Ziel der Frauenhausarbeit ist die Unterbrechung sowie der Schutz vor weiterer Gewalt. Im Besonderen kümmern wir uns um die Stabilisierung der Frauen und Kinder, um eine individuelle Hilfeplanung und die Entwicklung neuer Lebensperspektiven.
Wer kann zu Ihnen ins Frauenhaus kommen? Und wie lange können die Frauen bleiben?
S. Röck: Aufnahmekriterium ist Misshandlung oder angedrohte Misshandlung durch den/die (Ex-) Partner*in oder den Ehemann, die Ehefrau. Frauen, die zu uns kommen, befinden sich in akuter Gefährdung und Bedrohung. Wichtig ist: Die Frauen müssen mindestens 18 Jahre alt sein und sich selbst versorgen können. Sie leben mit anderen Frauen und deren Kindern in Wohngemeinschaften zusammen und werden in der Zeit von uns pädagogischen Fachkräften in ihrer Lebensplanung unterstützt. Die Aufenthaltsdauer richtet sich nach der individuellen Gefährdungssituation und psychischen Belastung. Manche Frauen bleiben eine Woche, andere über Monate.
Was ist das Besondere am Internationalen Frauenhaus der AWO Düsseldorf?
S. Röck: Im Unterschied zu manch anderen Frauenhäusern, die sich ausschließlich an Frauen richten, die Opfer von Partnerschaftsgewalt geworden sind, nehmen wir auch Frauen auf, die Opfer von Zwangsverheiratung zu werden drohen, sowie junge Frauen, die durch ihre Familie in ihrer Lebensführung eingeschränkt werden. Eine weitere Besonderheit ist, wie der Name sagt, dass wir ein Internationales Frauenhaus sind. Der Anteil der Frauen mit internationaler Biografie ist gleichbleibend hoch. Natürlich nehmen alle Frauenhäuser Frauen aller Nationalitäten auf, aber viele rufen gezielt bei uns an, weil sie sich mehr Kenntnisse im Aufenthaltsgesetz und mehr interkulturelle Kompetenz erwarten.
Wie läuft die Aufnahme ab?
S. Röck: Der Erstkontakt geht immer über das Telefon. Wenn wir ein Zimmer freihaben, sprechen wir direkt die wichtigsten Dinge ab. Kommt die Frau mit Kindern? Wenn sie eine internationale Biografie hat; welchen Aufenthaltstitel hat sie? Hat sie beispielsweise eine Wohnsitzauflage oder eine Duldung? Wie finanziert sie sich? Wie sieht die persönliche Gefährdungssituation aus? Sowas versuchen wir so detailliert wie möglich abzufragen, bevor die Frau sich auf den Weg macht zu uns. Dann wird sie zu einem Treffpunkt bestellt, wo wir sie abholen. Das hört sich etwas kompliziert an, ist aber von großer Bedeutung für die Sicherheit. Das oberste Ziel ist die Anonymität der Adresse.
Wie blicken Sie auf 35 Jahre Frauenhaus zurück? Wie hat sich Ihre Arbeit verändert?
S. Röck: Unsere Arbeit ist viel komplexer geworden. Die Misshandlungen, die die Frauen erleben, ihre Biografien und die Gefährdungslagen sind komplexer geworden. Wir haben es vielfach mit Multiproblemlagen zu tun. Zu der häuslichen Gewalt kommen oft ausländerrechtliche und familienrechtliche Fragestellungen hinzu. Außerdem das Thema Digitalisierung. Der digitale Zugriff auf Frauen und Kinder ist leichter geworden. Erfreulich ist: Die Arbeit zum Thema häusliche Gewalt ist professioneller geworden. Als ich angefangen habe, haben die meisten dieses Thema nur mit „heißen Fingern angefasst“ und wir haben viel Widerstand erlebt. 1997 haben eine Kollegin von der Frauenberatungsstelle und ich in Düsseldorf damit begonnen, ein Netzwerk gegen Häusliche Gewalt aufzubauen. Das hat sehr gut funktioniert und ist extrem wichtig, weil die Frauen eben nicht nur mit einem Problempaket zu uns kommen.
Erfahren Sie auch, wie die Geschichten der Frauen weitergehen?
S. Röck: Ja, wir haben einen eigenen Arbeitsbereich der nachgehenden Beratung. Diesen Bereich hat die Kollegin, die seit 2015 bei uns ist, weiter auf- und ausgebaut. Im vergangenen Jahr hatten wir 67 Frauen in der nachgehenden Beratung. Dieses Angebot ist ein freiwilliges Angebot und wir begleiten Frauen, die in eine eigene Wohnung ziehen, auch über viele Jahre weiter, etwa bei Fragen zum Gewaltschutz und Sicherheit. Manche Frauen haben einen neuen Partner, bekommen weitere Kinder. Es gibt immer wieder Situationen, in denen sie eine Beratung benötigen.
Schaffen es viele Frauen aus dem Leben mit Gewalt heraus?
S. Röck: Ja! Wir haben in unserer Statistik auch immer ausgewertet, wie viele Frauen zum Misshandler zurückkehren und das sind wenige. Als ich angefangen habe waren es noch über 50%, im vergangenen Jahr 12%. Das hat sich also deutlich geändert, auch weil das Hilfesystem besser geworden ist. Die Frauen haben heute mehr Vertrauen, dass sie, wenn sie weggehen, auch Unterstützung und Fachberatung bekommen, nicht nur ein Zimmer. Frauen, die Gewalt erfahren haben und deren Kinder sind oft traumatisiert. Sie brauchen spezialisierte Beratung und das bietet ihnen das Frauenhaus. Auch hier ist die Vernetzung sehr wichtig. Frauen, die eine Therapie wünschen, vermitteln wir an spezialisierte Beraterinnen und Therapeutinnen.
Wie viele Plätze haben Sie und wie viele bräuchten Sie?
S. Röck: Die AWO Düsseldorf hat ihre Plätze 2021 erweitert. Wir haben jetzt die Möglichkeit, elf Frauen und sechs Kinder, also 17 Personen unterzubringen. Die Istanbul-Konvention fordert Familienplätze gemessen an der Einwohner*innenzahl. Wir haben für Düsseldorf ausgerechnet, dass danach immer noch 43 Familienplätze fehlen. Wir führen selbst auch eine Statistik darüber, wie viele Frauen wir nicht aufnehmen können aufgrund von Vollbelegung oder aus anderen Gründen. Im letzten Jahr mussten wir 166 Frauen ablehnen. Bei dieser Zahl muss man aber beachten, dass viele Frauen sicher vorher schon in anderen Häusern angerufen haben, oder gar nicht erst bei uns anrufen, weil sie sich vorab auf einer der zwei zentralen Internetseiten informiert haben, ob noch Plätze frei sind. Diese Hilfesuchenden sind in unserer Statistik demnach nicht erfasst.
Was wünschen Sie sich, wie es weitergeht?
S. Röck: Ich wünsche mir vor allem eine gesicherte Landesfinanzierung. Wir sind immer noch projektfinanziert und müssen immer wieder Anträge stellen. Wir sind mit der AWO seit 35 Jahren Expertinnen für die Arbeit mit von Gewalt betroffenen Frauen und Kindern. Wir haben sehr viel Erfahrung mit der Institution des Frauenhauses und möchten noch mehr Frauen unterbringen und unterstützen können. Da ich mit Leib und Seele Netzwerkerin bin, wünsche ich mir, dass die Vernetzung verschiedener Stellen weitergeht und ausgebaut wird. Unser Ziel ist, dass eine Frau, die bei irgendeiner Beratungsstelle oder einer Ärztin anruft, die selbst vielleicht keine Fachkraft für häusliche Gewalt ist, möglichst schnell in die entsprechende spezialisierte Hilfestruktur gebracht wird.
Und dann geht es ganz klar um das gesellschaftliche Bewusstsein. Gewalt gegen Frauen muss geächtet sein. Es gibt immer noch so viele Situationen, in denen Frauen geschlagen oder beschimpft werden und es wird nur zugeguckt. Auch vermeintlich kleinere Situationen tragen zu einer gesellschaftlichen Atmosphäre bei, in der es immer noch Männer gibt, die denken, Frauen seien ihr Besitz. Oft haben Frauen auch einen finanziellen Nachteil. Eine Frau, die den Haushalt führt, die Kinder erzogen und ermöglicht hat, dass der Mann arbeiten geht, die kein eigenes Einkommen hat, und dann ins Frauenhaus geht, ist in der Regel auf Bürgergeld angewiesen. Dabei bleibt es eine Weile, weil sie erstmal sich und ihre Kinder wieder stabilisieren muss. Das sind alles gesellschaftliche Realitäten, die gar nicht richtig sichtbar sind.
Was kann präventiv getan werden?
S. Röck: Aus meiner Perspektive geht es bei Prävention auch um die Frage, wie wir mit den Kindern der Frauen umgehen, die im Frauenhaus sind, oder die Gewalt erleben. Wir sprechen in der Fachliteratur auch von transgenerationaler Weitergabe. Wir haben oft Frauen in den Frauenhäusern, die auch schon mit ihren Müttern in einem Frauenhaus waren. Diese Kinder haben Gewalt als Normalität erlebt. Es ist ganz wichtig, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, um diese Familienstrukturen zu reflektieren. Da gehört auch die Schule dazu, die Kita, der Sportverein. Gewalt gegen Frauen geht alle an. Es wird auch nicht nur mit den Frauen gearbeitet, die AWO hat auch Einrichtungen, die mit Tätern arbeiten. Häusliche Gewalt wird nicht beendet, nur, weil die Frauen Beratung erhalten. Die ganze Familie braucht Unterstützungsangebote.
Wie können Frauen sich schützen?
S. Röck: Häusliche Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die Ursache ist die Gewalt der Männer. Frauen sind es leider oftmals gewohnt, ihr Verhalten anzupassen, um nicht zu provozieren. Das ist nicht Gleichberechtigung. Bei häuslicher Gewalt geht es um Macht und Kontrolle. Vergewaltigung zum Beispiel hat nichts mit Sexualität zu tun, da geht es um Macht, Kontrolle und Gewalt. Wir arbeiten mit den Frauen an ihrem Bewusstsein für ihre Rechte und Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Zum Thema häusliche Gewalt gehört nicht nur, die Gewalt zu beenden, sondern auch, Menschen dazu zu befähigen wahrzunehmen, was Diskriminierung ist. Frauen bräuchten Männer, die sie nicht schlagen, dann müssten sie sich nicht schützen.
Hat häusliche Gewalt zugenommen?
S. Röck: Ich würde schon sagen, dass die häusliche Gewalt zunimmt, weil die Krisen in der Welt zunehmen und damit die Problemfelder der Menschen größer werden. Es gibt Faktoren im Leben von Familien, wie zum Beispiel sehr enger Wohnraum, die Gewalt begünstigen können. Laut Kriminalstatistik nimmt sie zu. Es gibt mittlerweile auch mehr Untersuchungen zu dem Thema. Wir orientieren uns an der Zahl, dass es jede dritte Frau betrifft. Diese Realität ist erschreckend.
Was ist das Schwerste und was ist das Schönste an Ihrer Arbeit?
S. Röck: Das Schöne und der Grund, warum ich schon so lange dabei bin, ist Frauen und Kinder zu begleiten, sie zu bestärken, dass sie die Gewalt nicht aushalten müssen, dass die Gewalt nicht in Ordnung ist, und dass es Unterstützungsmöglichkeiten gibt. Diese Solidarität und Unterstützung ist etwas sehr Verbindendes. Das Schwierige für mich sind nicht die Berichte der Frauen, die ich jeden Tag höre, sondern die Strukturen, die die Arbeit zunehmend erschweren. Der Aufwand für die Finanzierung, das Anträge-Stellen mit den Frauen und immer wieder dafür kämpfen müssen, dass anerkannt wird, dass es häusliche Gewalt in unserer Gesellschaft gibt, das ist manchmal mühsam und kräftezehrend. Es ist die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Frauen und Kinder geschützt sind.
Frau Röck, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Gespräch führte Irit Bahle.
Zum PDF der gesamten Ausgabe geht es hier.
Info: Das Internationale Frauenhaus der AWO Düsseldorf
Das Internationale Frauenhaus der AWO Düsseldorf ist aus der Internationalen Frauenwohngemeinschaft hervorgegangen, die schon 1984 von Mitarbeiterinnen des Internationalen Familientreffs und des türkischen Sozialdienstes der AWO Düsseldorf (heute Migrationsberatung) gegründet wurde. Seither wurden 1.291Frauen und 1.053 Kinder beraten und betreut. Die Sozialpädagoginnen, Erzieherinnen und eine Hauswirtschafterin des Internationalen Frauenhauses bieten neben der anonymen Unterkunft vor Ort auch Beratungen sowie Kontakt und Begleitung zu anderen Stellen an. Die Frauen erhalten unter anderem Unterstützung bei der Sicherung des Lebensunterhaltes, der Wohnungs- und Arbeitssuche und vielem mehr. Hierzu greifen die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses auf ein dichtes Netzwerk an Beratungsstellen innerhalb und außerhalb der AWO zu. Stabilisierung und Ressourcen-Aktivierung stehen immer im Vordergrund der Arbeit.
Silvia Röck ist seit 2001 Leiterin des Internationalen Frauenhauses der AWO Düsseldorf. Angefangen hat sie 1991 als Praktikantin während ihres Sozialpädagogikstudiums, später war sie als Erzieherin in der Einrichtung tätig und seit 1997 als Diplom-Sozialpädagogin.
Kontakte
Das Internationale Frauenhaus ist für Hilfesuchende telefonisch erreichbar unter: 0211 – 65 88 484. Wichtige Informationen und eine Übersicht über die Frauenhäuser und freie Plätze finden betroffene Frauen unter:
www.frauen-info-netz.de
www.frauenhaus-suche.de
www.hilfetelefon.de
www.frauenhauskoordinierung.de